Der ein oder andere erinnert sich vielleicht noch an die Opel-Werbekampagne "Umparken im Kopf", die vor einigen Jahren zur Rettung von Opels arg ramponiertem Markenimage geschaltet wurde - mit wenig Erfolg, soweit ich das beurteilen kann und darf. Nachdem Opel in meinem Kopf offenbar nicht umgeparkt hat, erscheint mir der Slogan nach wie vor gut und tiefsinnig. Je länger man darüber nachdenkt, desto wichtiger erscheint es, einfach mal im Kopf umzuparken. Ganz egal, um was es geht. Nun, auf dieser Seite geht es ums Stottern, und so soll das Stottern auch der vordergründige Aufhänger für meine Denkanstöße sein. Ihr werdet aber schnell bemerken, dass sich die Umparkerei auch in vielen anderen Lebensbereichen lohnen kann.
Die Texte dieser Rubrik sind nicht in meinem Buch enthalten.
12. Juli 2021
Mehr Skepsis, bitte
Inspiriert von Daniel Gilberts irreführend betiteltem Buch „Ins Glück stolpern“ (2006). Nein, nicht etwa noch ein seichtes Buch aus der Glücksratgeber-industrie, sondern ein faszinierendes Stück Wissenschaft eines Harvard-Professors für Psychologie.
Hätte ich mir bis vor 10 Jahren vorstellen können, dass mir mein Stottern mal herzlich egal sein wird? Dass ich nicht für den Rest meines Lebens alle 20 Sekunden an mein Stottern denken würde? Dass mein Tagesablauf nicht für alle Zeiten vom Stottern beherrscht und gesteuert sein wird? Nein. Und war das explizit mein Fehler, so negativ in die Zukunft zu blicken? Nochmal nein. Denn die Vorstellungskraft eines jeden Menschen ist in vielfacher Hinsicht mängelbehaftet, und um diese Unzulänglichkeiten – genauer gesagt drei an der Zahl - geht es in Dan Gilberts faszinierendem Buch „Ins Glück stolpern“.
Zuerst sorgt ein Mangel namens „Realismus“ dafür, dass wir den Ergebnissen unserer Vorstellungskraft nicht hinreichend skeptisch gegenüberstehen. Sie arbeitet nämlich überaus schnell, effektiv und unauffällig.
Der „Präsentismus“ - für mich der faszinierendste aller dieser Mängel - besagt, dass unsere Vorstellungskraft schlicht nicht sonderlich vorstellungskräftig ist. Anders ausgedrückt: Die imaginäre Zukunft sieht der Gegenwart verdammt ähnlich. So wie Erinnerungen wenig detailliert sind und mit (potentiell falschen) Informationen aufgefüllt werden, werden die nicht vorstellbaren Details beim Blick in die Zukunft ebenso aufgefüllt - fatalerweise mit „jetzt und hier und heute“. Die Gegenwart ist am schnellsten verfügbar und wird somit für die Stopfung jeglicher Löcher umgehend verwendet (und das in Folge des „Realismus“ leider sehr schnell, effektiv und unauffällig).
Zu guter Letzt sorgt die „Rationalisierung“ dafür, dass wir uns schwer damit tun vorherzusagen, was wir über die Zukunft denken und fühlen werden, wenn sie dann tatsächlich da ist (im Gegensatz zu: aus heutiger Sicht). Aber ist nicht genau das für unser künftiges Wohlbefinden ausschlaggebend? Denn was interessiert es unser momentanes Wohlbefinden am Tag X in der Zukunft, was wir vor einem Jahr dachten, wie wir uns voraussichtlich fühlen würden – einzig und allein wie wir uns tatsächlich am Tag X fühlen, ist dann ausschlaggebend (was wiederum eine Folge des „Präsentismus“ sein dürfte).
Und was genau fasziniert mich am „Präsentismus“ so sehr?
Nun, zuallererst fühlt man sich ertappt. Ja, die imaginäre Zukunft ist wirklich oft total „heute“. Es ist dermaßen offensichtlich, dass man sich unweigerlich fragt, warum einem das nicht schon viel früher aufgefallen ist. Beispiel: Die Beziehung ist zu Ende, man ist einsam und verzweifelt, und ist felsenfest davon überzeugt, für immer einsam und verzweifelt zu sein. Spoiler: das stimmt so nicht zwangsläufig. Einige Zeit später stellt sich das tatsächlich als falsch heraus, und man ist - wider jeglicher Vorstellungskraft - nun doch wieder glücklich verliebt. Aber man denkt, falls diese Beziehung mal zu Ende gehen sollte, wird es einem sicherlich nicht mehr so schlecht gehen wie damals. Ja, eine gewisse Stärkung aus der vorhergehenden Krise wird spürbar sein. Aber man sitzt trotzdem in weiten Teilen einer Illusion auf. Denn heute, nämlich im Zustand „glücklich und verliebt“, könnte man so eine Trennung tatsächlich relativ locker wegstecken. Nur ist man dann, wenn die Trennung wirklich da ist, nicht mehr glücklich und verliebt, sondern traurig und enttäuscht, was die Sache mit dem Wegstecken wesentlich erschwert.
Der andere, für mich alles entscheidende Punkt, ist aber: ich habe durch Daniel Gilbert den „Präsentismus“ als den grundlegenden Mechanismus einer Depression verstanden. Wenn man sich heute nicht gut fühlt, kann man sich nur sehr schwer vorstellen, sich morgen oder in einem Jahr gut zu fühlen. Fertig ist der Tunnelblick. Ich morgen in einem Restaurant verständlich und ohne Scham und Angst mein Essen bestellen? Eher nicht. Ich unbeschwert alt werden, trotz Stottern? Unvorstellbar. In der Tat, aber eben nicht unmöglich! Die heutigen Gefühle werden den Ereignissen in der Zukunft zugeschrieben. Folglich sind es also gar nicht die zukünftigen Ereignisse und Umstände selbst, die die Zukunft wenig erquickend aussehen lassen, sondern Deine heutigen, negativen Gefühle bezüglich des "Jetzt und Hier". Und das beste: Du machst absolut nichts falsch dabei. Das Gehirn aller Menschen arbeitet einfach genau so.
Nun bin ich Kalenderblattweisheiten gegenüber tendenziell abgeneigt. Das Credo „Glaube nicht alles, was Du denkst“ habe ich aber zwischenzeitlich stark verinnerlicht. Es erscheint mir die folgerichtige Reaktion auf die Unzulänglichkeiten meiner Vorstellungskraft zu sein, und zudem erscheint es für die Erschaffung eines positiven Lebensgefühls überaus empfehlenswert. Ja klar, ich stottere immer noch. Aber es ist mir weitestgehend egal. Und der Wille zur Skepsis hat mir aus einer Depression geholfen. Wer hätte sich das alles jemals vorstellen können?
[Jochen Praefcke, 12. Juli 2021]
Der Text basiert auf Daniel Gilberts Buch "Ins Glück stolpern" (2006), Goldmann, ISBN 978-3-442-15488-3
12. April 2020
Nur schade, dass der Junge stottert
Inspiriert von der wunderbaren Filmszene aus "Asso" mit Adriano Celentano, in der er über einen anderen Kartenspieler mit der für ihn typischen Non-Chalance sagt: "Der Bengel ist wirklich nicht schlecht. Er blufft das Blaue vom Himmel ohne zu Zittern. Nur schade, dass der Junge stottert".
Ja, wirklich schade, dass der Junge stottert. Was aber mindestens so schade ist: die wenigsten Stotternden können dies bezüglich ihres eigenen Stotterns so locker sehen wie Adriano Celentano alias Asso. Denn Stotternde scheinen sich oft zu sehr über das eigene Stottern zu definieren – ich selbst habe den Fehler rund 40 Jahre lang gemacht. Die vielen anderen persönlichen Facetten geraten da gerne in Vergessenheit, werden regelrecht überschattet. Talentierter Handwerker, toptrainierter Ausdauersportler, musikalischer Mensch, humorvoller Typ, irre gutaussehender Kerl, die reinste Partykanone, hilfsbereit, großzügig, belesen, was auch immer … man könnte die frei erfundene Liste beliebig fortsetzen. Und bei einigen Menschen steht dann halt irgendwann auch „Stotternder“ auf der Liste – im Idealfall aber halt als eine Eigenschaft unter vielen und nicht als erster und letzter Eintrag der Liste.
Und ja, man kann es dann auch ruhig schade finden, dass man stottert. Denn niemand braucht sein Stottern wirklich, und ich unterstelle, dass die Mehrzahl der Stotternden auf ihr Stottern verzichten würden, wenn sie es könnten. Ich wage aber auch zu behaupten: jeder Stotternde, der auf die Frage „was würdest Du ändern, wenn Du es könntest“ in Sekundenschnelle mit „nicht mehr Stottern“ antwortet, hat sein Stottern zu präsent. Es steht dann zu weit vorne auf der eigenen Liste der persönlichkeitsdefinierenden Merkmale. Und genau dann sollte man es wie Asso machen und dem “schade“ vielleicht mal eine Chance geben. Denn „schade“ ist genau betrachtet ein geradezu hervorragendes Konzept. Weil „schade“ nämlich ausdrückt, dass es nicht katastrophal, lebensbedrohlich oder ausweglos ist. Sondern eben einfach nur – Ihr ahnt es bereits – schade! Die Eleganz des Konzepts versteht man vielleicht am besten, wenn einem das „schade“ mal eine Zeit lang abhandengekommen ist. In einer depressiven Phase tut man sich zum Beispiel schwer, irgendwas einfach nur schade zu finden. Da ist dann alles sehr wohl katastrophal, lebensbedrohlich und ausweglos. Ich plädiere also schlicht für mehr „schade“ im Umgang mit dem eigenen Stottern.
Ach ja, Humor und etwas Selbstironie helfen natürlich auch immer: so kann man mitunter auch dem flachsten Filmgag noch eine ungeahnte philosophische Tiefe abgewinnen.
[Jochen Praefcke, 12. April 2020]
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